
Grundlagen
Die öffentliche Sprache der Presse benutzt die Wörter 'Ritus' und 'Ritual' mit erstaunlicher Frequenz, doch zumeist mit einem negativen Unterton. Auf diese Weise hält sich, wie es scheint, die moderne Gesellschaft für ihre Herkunft aus den Rationalitätsschüben der Neuzeit schadlos, da der Ritualbegriff für gewöhnlich mit vormodernen und nicht zuletzt religiös legitimierten Lebensformen in Verbindung gebracht wird. Der Begriff bezeichnet im öffentlich-publizistischen Sprachgebrauch streng formalisierte, nach immergleichen oder doch sehr ähnlichen Mustern ablaufende Handlungssequenzen. Formelhaftigkeit und Wiederholung gelten unter diesen Umständen als Indizien für einen automatisierten, risikofreien und zugleich bedeutungsleeren, also folgenlosen Aufführungsstil, dessen Akteure austauschbar sind.
Vom öffentlichen Sprachgebrauch unterscheidet sich die theoretisch reflektierte Anwendung des Ritualbegriffs in der Forschungspraxis der Kultur- und Sozialwissenschaften, an die der SFB kreativ verändernd anknüpfen will, um in enger Kooperation zwischen den Textwissenschaften einerseits und den Erfahrungswissenschaften andererseits die Reichweite der Schlüsselbegriffe mit Blick auf die aktuellen theoretischen und methodologischen Grundlagendebatten neu bestimmen und für kulturvergleichende Studien brauchbar machen zu können.
Als wissenschaftlich modelliertes Konstrukt besitzt der Ritualbegriff eine eigene, auf praktische Zwecke bezogene Logik. Diese Logik schließt durchaus die oben erwähnten strukturellen Merkmale der Formalisierung und Formelhaftigkeit ein. Zugleich berücksichtigt sie aber auch eine Besonderheit, die mit dem performativen Präsentationsmodus rituellen Handelns zu tun hat. Dieser haftet an der gestischen und paralinguistischen Körperlichkeit ritueller Praktiken und erzeugt eine charakteristische Spannung, wenn nicht sogar einen Gegensatz zur Schriftlichkeit der Regeln und Formeln, die den Ritualen vorausgehen, sie regulieren und häufig während ihres Vollzugs rezitiert bzw. intoniert werden. Hinzu kommt sehr oft - wie jeder Zuschauer einer Prozession, einer Parade, einer öffentlichen Gedenk- oder Einweihungsfeier beobachten kann - ein nicht geringer szenisch arrangierter Aufwand an materiellen Symbolen (z.B. Fetische, Hoheitszeichen, Insignien), an Dekorationen, Kostümen oder Uniformen, an begleitender Musik, künstlicher Illuminierung u.a.m. Für gewöhnlich inszenieren diejenigen, die für Vorbereitung, Organisation und Vollzug verantwortlich sind, das jeweilige Ritualereignis in der Art eines Schauspiels, das zu bestimmter Zeit (tempus ritualis) an bestimmtem Ort (locus ritualis) stattfindet, aber - anders als die Bühneninszenierung - nicht zwischen Zuschauern und Akteuren trennt. Denn es liegt in der Logik aller rituellen Handlungen, im Vollzug des mit expressiver Symbolik gestalteten Ritualprozesses einen kollektiv verbindlichen, sozial gültigen Sinn zu erneuern, zu bekräftigen oder überhaupt erst zu stiften.
Kulturanthropologen haben die alltagstranszendierenden Inszenierungen rituellen Handelns als zustands-transformierende Prozesse beschrieben, die auf ihre Weise dazu geeignet sind, die Wertkategorien und Grundwidersprüche eines soziokulturellen Systems zum Ausdruck zu bringen. Doch es geht in diesen Prozessen nicht um das zweckfreie Darstellen einer längst schon bekannten Ordnung, sondern darum, an der Schwelle zum Unbekannten - man denke an periodisch wiederkehrende oder plötzlich eintretende Krisen- und Übergangssituationen - dem betroffenen Kollektiv die Notwendigkeit ordnender Gestaltung als etwas Verbindliches oder gar 'Heiliges' einzuprägen. Vor der grundsätzlichen Zweideutigkeit allen Handelns ist das rituelle nicht geschützt. Die gewaltsame, militärisch und paramilitärisch organisierte Ritualisierung diktatorischer Machtausübung belegt den möglichen Missbrauch.
Der Leitbegriff unseres Projekttitels, "Ritualdynamik", umfasst die folgenden Grundannahmen:
1) Rituelles Tun ist - ungeachtet unterschiedlicher einzelsprachlicher Bezeichnungen - eine intra- und transkulturell zu beobachtende, über expressive Ausdrucksformen vermittelte Art und Weise symbolischen Verpflichtungshandelns, deren Wandel durch den Austausch zwischen unterschiedlichen Lebensformen bedingt ist, was u.a. auch komparatistische Untersuchungen nahelegt (Kriterium der Universalität).
2) Rituale besitzen eine prozedurale Struktur, deren wissenschaftliches Studium auf besondere, prozessanalytisch fundierte Methoden angewiesen ist, die im Rahmen interdisziplinärer - text- und erfahrungswissenschaftlicher - Forschungsprogramme zu entwickeln und zu erproben sind (Kriterium der Prozessualität).
3) Die Rekonstruktion der historischen Dynamik rituellen Handelns hat die besondere, im Sinne der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen beschaffene Zeitlogik dieses Handlungstyps zu beachten, die in der Regel am Rückgriff auf uralte Symbolisierungs- und Performanzmuster abzulesen ist (Kriterium der Rekursivität).
Heidelberg, August 2002